Interview mit Roger Behrens
»Den Kopf für Kritik frei bekommen«
Roger Behrens ist Mitherausgeber der poptheoretischen Zeitschrift
Testcard-Beiträge zur Popgeschichte, u.a. Autor des Buches Die
Diktatur der Angepassten (Transcript Verlag 2003) und lehrt zur Zeit an der
Bauhaus Universität Weimar Grundlagen der Ästhetik der
Gegenwartskultur. Wir befragten ihn zu den derzeitigen Möglichkeiten im
Umgang mit kulturindustriellen Realitäten.
Conne Island: Im Conne Island lebt die politische Linke nun schon seit
fünfzehn Jahren in einer festen Beziehung mit Independent und Subkultur
und schreibt damit eine weit ältere Traditionslinie fort. In welchem
historischen Kontext entwickelte sich der Gedanke von Subkultur und wie kam es
zur Verflechtung mit der »Neuen Linken«?
Behrens: Subkultur bezeichnet wörtlich, also räumlich-sachlich, einen
kulturellen Bereich unterhalb der etablierten Kultur. Der Begriff
korrespondiert mit dem des Underground, mit dem er auch ungefähr
zeitgleich auftaucht: die zumeist im Plural auftretenden Subkulturen sind ein
spezifisches Phänomen der gesellschaftlichen Entwicklung der zweiten
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das zum Komplex der Popkultur, der
Postmoderne, der Verschiebung von der fordistischen zur postfordistischen
Gesellschaft beziehungsweise zum
Spätkapitalismus gehört. Subkulturen sind insofern für die
vollständig auf der Verwertungslogik basierende Warentauschgesellschaft
signifikant, als dass sie einerseits die Totalität der Kulturindustrie
bestätigen (»Alle Kultur wird zur Ware«), andererseits diese
Totalität zumindest scheinbar, nämlich symbolisch, überschreiten
und vorgeben, jenseits dieser Ökonomie zu operieren. In besonderer Weise
überkreuzen sich in Subkulturen deshalb verschiedene Fetischismen: der
Warenfetisch, ein ästhetisches und gleichsam fetischisiertes
Glücksversprechen, Motive des Sexualfetischismus sowie Derivate
religiöser und politischer Fetischismen.
Der Begriff der Subkultur hat sich wie die Praxis der Subkulturen in zwei
Phasen entwickelt; es gibt deshalb auch zwei Begriffe von Subkultur, die man
unterscheiden kann.
In den fünfziger bis siebziger Jahren hat sich zunächst, ausgehend
von den US-amerikanischen soziologischen Schulen der Vierziger und den
frühen Cultural Studies, ein sehr allgemeiner Begriff von Subkultur
etabliert, in Abgrenzung oder Übereinstimmung mit Begriffen wie peer
group, Teilkultur, Gegenkultur (counter culture) und so weiter.
Einher ging dem der Versuch, den Kulturbegriff einer grundsätzlich
Neubestimmung zu unterziehen, etwa im Sinne von »culture as a whole way
of life« (Raymond Williams) oder »a whole way of struggle«
(Edward P. Thompson); die Bedeutung von Kultur sollte auf die allgemeine
Alltagspraxis ausgedehnt werden (Henri Lefebvre veröffentlichte 1947 seine
Kritik des Alltagslebens). Subkulturen waren dabei keineswegs nur auf
den Bereich der Jugendkulturen beschränkt; verschiedene Lebensweisen,
Freizeitverhalten, Vereine oder Verbände hat man als Subkulturen
beschrieben. Rolf Schwendter hat mit seiner Theorie der Subkultur diesen
Begriff der Subkultur systematisch dargestellt und so zum Beispiel progressive
und regressive Subkulturen unterschieden. Er hat in seiner umfassenden Studie
von 1970 allerdings betont, dass noch wenig über den Zusammenhang von
Ästhetik, Kunst und Subkultur bekannt sei. Das ist deshalb bemerkenswert,
weil sich zur selben Zeit die Praxis der Subkulturen zunehmend auf das
Ästhetische, auf künstlerische Strategien konzentrierte: die
Protestbewegungen der späten sechziger bis achtziger Jahre probierten in
dieser Weise, an das Problem der Avantgarde anzuschließen und Kunst als
Form der politischen Praxis zu aktualisieren. Dies markiert den zweiten Begriff
von Subkulturen. Zeitgleich wird das erste Mal von der Neuen Linken gesprochen.
Die New Left reagierte dabei genauso wie die Cultural Studies auf eine
veränderte politisch-gesellschaftliche Situation: Die Kritik des
Kapitalismus wurde um den Feminismus, die Ökologie und den Antirassismus
ergänzt. Die Arbeiterklasse zeigte sich soweit in die herrschenden
Strukturen integriert, dass sie nicht mehr als revolutionäres Subjekt
gelten konnte - eine Neubestimmung des revolutionären Subjekts bedeutete
für die Neue Linke zugleich eine Neubestimmung der Revolution und vor
allem des Subjekts. Des Weiteren war die Kritik des Kapitalismus einerseits
nicht mehr auf die Metropolen beschränkt, andererseits musste die
politische Praxis in den Metropolen revidiert werden. Das Ästhetische, die
Phantasie, das Begehren, die Sinnlichkeit etc. - das waren die entscheidenden
Motive für eine kritische Rekonstruktion des (revolutionären)
Subjekts. In den Subkulturen fanden diese Motive ihren - zum Teil radikalen -
Ausdruck, beziehungsweise bedeutete die Praxis der Neuen Linken eine
Politisierung der Subkulturen: Homophobie, Rassismus, Sexismus und dergleichen
waren nun keine kulturellen oder individuellen Probleme mehr, sondern
politische Angriffsziele; ebenso eröffneten Subkulturen Freiräume,
Nischen und Zonen der Selbstermächtigung, der Praxis der Subversion und
Dissidenz. In den sechziger und siebziger Jahren gelang es, eine kulturelle
Praxis mit unterschiedlichen progressiven politischen Bewegungen zu verbinden.
Um einen Begriff des Philosophen Ernst Cassirer zu benutzen: Subkulturen
entwickelten eine »symbolische Prägnanz« - die alte
Gesellschaft ging mit der neuen schwanger und in den Subkulturen zwischen
Avantgarderock, Disco, Punk, Funk und New Wave fand das seinen Ausdruck.
Zugleich galten Subkulturen als Synonym für »linke Kultur«,
übrigens genauso, wie »das Politische« mit
»links« gleichgesetzt wurde. Subkulturen wurden zum praktischen
Ort der politischen Utopie; dadurch verengte sich jedoch die utopische
Dimension. Das revolutionäre Fernziel wurde in die Gegenwart geholt, der
radikale Gegenentwurf einer kommunistischen Gesellschaft der freien Assoziation
zum privaten, individuellen und hedonistisch einlösbaren Nahziel
verwandelt. Damit wurde die subkultur-elle Praxis von der Geschichte, also von
der Zukunft, aber auch von der Vergangenheit entkoppelt. Der
»affirmative Charakter der Kultur«, den Marcuse schon 1937
untersuchte, hat sich im Zeitalter des Pop auf die Subkultur ausgeweitet oder
verlagert. Für die kritische Theorie sind dies die Rahmenbedingungen der
Diskussionen um Pop, Politik und Subkultur der neunziger Jahre; sie helfen zu
verstehen, wieso in dieser Zeit die Vorstellung von einem
»Subversionsmodell Pop« als per se widerständige
Subkultur so hartnäckig verteidigt, aber auch ebenso vehement als falsch
angegriffen wurde.
Wie hat sich in den letzten Jahren die Bedeutung von Subkultur und
Independent verändert? Welche Rolle spielte die so genannte Poplinke dabei
und wie hat sie sich in den letzten Jahren gewandelt?
Subkultur hat sich als Modewort vollkommen verselbstständigt und entleert.
Subkultur, Independent, Politik etc. gehören zu einem Jargon eines
Konformismus, der Nonkonformismus als Understatement darüber betreibt,
dass die Welt so, wie sie ist, in Ordnung sei: Es kommt darauf an, sie zu
interpretieren, sich die Verhältnisse schön zu reden.
Veränderung gibt es höchstens als individuelle Anpassungsleistung:
Man möchte kulturell aus der Rolle fallen, um sozial nicht aus der Rolle
zu fallen.
Allerdings ist die Popkultur eine Oberfläche, eine Bühne, eine
Verweigerung von Substanz. Tiefe oder ein verborgenes Inneres, ein Wesen des
Pop - das sind die Trugbilder der Popkultur, die »Idolationen«,
die von Independent und Mainstream gleichermaßen verkörpert werden.
Anders gesagt: Popkultur erlaubt es, die Ȁsthetisierung der
Politik« (Walter Benjamin) als Pseudopolitisierung in Permanenz zu
verdoppeln; Ästhetisierung und Politisierung fallen zusammen und am Ende
bleibt der reine Schein, die reine symbolische Präsenz. Dieser Prozess ist
in den neunziger Jahren durch eine Kulturalisierung der politischen Linken
beschleunigt worden: politische Themen sind durch kulturelle nicht
ergänzt, sondern ersetzt worden; was einmal als Gesellschaft beschrieben
wurde, galt jetzt als kulturelles Phänomen. Im Verlauf dieser Entwicklung
haben Subkulturen ihre »symbolische Prägnanz« verloren.
Ohnehin bleibt die Bedeutung von explizit kultureller Praxis auf den
symbolischen Ausdruck beschränkt. Kultureller Widerstand ist redundant
insofern, als dass er sich auf die Artikulation eines Bedürfnisses von
Widerstand, nicht auf die widerständige Praxis selbst bezieht. Er
reduziert sich auf die Inszenierung eines Versprechens, auf die sentimentale
und isolierte Idylle - das Konzert, der Lifestyle, die Mode etc. Auch
subkulturell verstanden, zielt die Praxis von Popkultur nicht auf die
konkrete Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse,
sondern nur auf deren veränderte symbolische Darstellung. Indem
Popkultur beziehungsweise Popsubkulturen auf der symbolischen Oberfläche,
auf der Ebene des bloßen Ausdrucks, in der Nische der
»Repräsentation« und »Performanz« hängen
bleiben, haftet ihnen, so fortschrittlich ihre Inhalte sich gerieren, for-mal
immer ein Moment von Regression an. Und dies gerade dann, wenn sie sich in
ihrer Idee von Subversion oder Dissidenz auf das »kulturelle
Feld« zurückziehen.
Allerdings hat gerade die so genannte Pop- oder Kulturlinke diese Praxis des
Symbolischen stark gemacht - und zwar in zum Teil aggressiver Abwendung von
einer dialektischen Theorie der Gesellschaft. Verschiedene Varianten der
Diskurstheorie - von Michel Foucault über Gilles Deleuze bis Judith Butler
- haben den Antimaterialismus unterfüttert und die Poplinke, die insgesamt
einem sozialdemokratischen Kulturjournalismus entspringt, hat einen
theoretischen Eskapismus schon für ihren eigenen Diskurs zum Programm
erklärt: Theorie soll selber Pop sein, sexy und cool; Debatten werden als
Schaukämpfe inszeniert und sind von männlichen Sprechweisen auch dort
bestimmt, wo man sich postfeministisch und »queer« gibt; selbst
eine Kritik des Hippnessverfalls dient dabei primär dem Zweck, die eigene
»Hippness« zu bestätigen. In den neunziger Jahren hatte es
die Poplinke indes innerhalb ihres eigenen Diskurses noch einfacher, weil sie
exklusiver und esoterischer war: Das kryptische Reden über besondere
Musikrichtungen ebenso wie über das vermeintlich Politische hatte den
Charakter von Geheimwissen - jetzt ist es allgemeines Wissen und zugleich
bedeutungsloses Wissen. Das ist
so ähnlich wie die Ökologiedebatte Ende der Siebziger:
Mülltrennung war damals eine Praxis von Eingeweihten; heute gehört
Mülltrennung zum allgemeinen ökologischen Konsens, gleichzeitig ist
aber auch egal, ob man den Müll trennt oder nicht. Das »wahre
Umweltbewusstsein« versucht jetzt, den Müll immer noch
sorgfältiger, mit noch mehr Bewusstsein zu trennen. Mit dem Popdiskurs und
der Kulturlinken ist es nicht anders. Um jetzt noch Distinktionsgewinne zu
machen, muss man neue Register ziehen - zum Beispiel verbindet man Pop mit
Neokonservatismus -, oder mit den alten Registern die alte Diskursmelodie etwas
protziger vortragen - die Poplinke hat hierbei offenbar einiges von
Managementseminaren und vom Motivationstraining gelernt.
Die Poplinke ist ein Resultat des Scheiterns be-stimmter Teile der politischen
Linken in den Achtzigern; es kommt nicht von ungefähr, dass einige der
Wortführer des Popdiskurses ihre politische Vergangenheit im Stalinismus
hatten und heute in der Sozialdemokratie wieder auftauchen. Die Poplinke ist
zudem ein deutsches Phänomen: Sie hat mit der Vereinigung zu tun und ist
der Versuch, mit Mitteln des Pop auf den Neofaschismus zu reagieren. Gerade die
Kontroverse um die Wohlfahrtsausschüsse und das Conne Island zeigen
allerdings, dass eine Verbindung zwischen der Poplinken und der
antifaschistischen Bewegung nicht gelang, unter Umständen auch gar nicht
beabsichtigt war: gerade die Poplinke hat damals genau die
Identitätspolitik idiosynkratisch, also selbstbezüglich oder, wenn
man so will, esoterisch und eindimensional verteidigt, die sie jetzt - ebenso idiosynkratisch - attackiert.
Etwas kommt hinzu: Auch wenn die Poplinke sich zunächst antinational
verstand (aber dann mit einer antideutschen Politik ihre Probleme hatte), hatte
der eigentümliche Bezug auf das Kulturelle, und zwar bei allen Fraktionen
der Poplinken, etwas »Deutsches«: verteidigt wurde stets eine
Vorstellung von Kultur, die eng mit dem bürgerlichen
Kulturverständnis deutscher Prägung verbunden ist. Es war und ist
immer der Wille zur Kultur, zur Hochkultur, zum Geistigen, zum Authentischen -
die unbedingte Verteidigung eines
der Wirklichkeit übergeordneten Wertereichs. Man will kultiviert sein;
darin schleppt sich noch ein dünkelhaftes Relikt des Bildungsbürgers
mit, welches gerade von der sozialdemokratischen Poplinken verteidigt wird. Das
gilt exemplarisch für fast alle, die bei den Wohlfahrtsausschüssen
Anfang der Neunziger dabei waren. Gerade im Popdiskurs fehlt das Bewusstsein,
dass das bürgerliche Modell von Kultur auch vollständig gescheitert
sein könnte, weil es sich gewissermaßen mit der Dialektik der
Aufklärung desavouiert hat. Um es drastisch auszudrücken: auch dem
selbstgefälligen Kulturverständnis der Poplinken haftet der Verdacht
an, nach Fünfundvierzig einfach weiterzumachen, als ob nichts passiert
wäre. Adornos Diktum, dass alle Kultur nach Auschwitz Müll sei, ist
hier jedenfalls nicht reflektiert worden.
Die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Politik ist etwa in
Großbritannien, in Frankreich oder Italien ganz anders diskutiert worden,
nämlich im Kontext einer starken, zum Teil revolutionären
Arbeiterbewegung, also vor dem Hintergrund eines offenen Klassenwiderspruchs.
In Deutschland ist die Klassenstruktur auf das Angestelltenniveau nivelliert
worden; eine re-volutionäre Arbeiterbewegung hat es nach
Fünfundvierzig weder in der BRD noch in der DDR gegeben.
Die Entwicklung der Popkultur hat in Deutschland einen sehr bürgerlichen,
wenn nicht kleinbürgerlichen Verlauf genommen, was von der Poplinken und
ihrer gesellschaftlichen Stellung bestätigt wurde. Jedenfalls: so etwas
wie die Pop- oder Kulturlinke gibt es kaum in anderen Ländern. Damit
hängt es wohl zusammen, dass auch die Debatte um Independent in der BRD
einen besonderen Verlauf genommen hat: In anderen Ländern ist Independent
einerseits eine rein ökonomische und deskriptive Kategorie, ohne
ästhetische und politische Wertung - Kylie Minogue etwa ist independent,
wenn sie nicht beim Major ist; und andererseits gibt es Independent
natürlich als Stilbezeichnung für eine gewisse Art von Rock oder
Hardcore, die dann ästhetisch oder künstlerisch unabhängig vom
Mainstream sein soll. Im deutschen Popdiskurs der neunziger Jahre sind diese
beiden Bedeutungen zusammen geschoben worden, wobei genau diese Doppelbedeutung
noch heute das Politische kennzeichnen soll. Musik, die nicht beim Major ist
und deshalb - nach einer völlig unzureichenden Vorstellung von
Kapitalismus - als ökonomisch unabhängig gilt, sei auch
ästhetisch, in ihrem musikalischen Ausdruck independent - was wieder
einmal mit »links«, »widerständig« oder
»kritisch« gleichgesetzt wird und eben als
»subversiv« oder »dissident« gilt.
Mithin ist das Politische als Haltung im Pop zu einer reinen, gehaltlosen Geste
geworden. Heute ist die Poplinke unbedeutend geworden, gleichwohl sie den Weg
dafür bereitet hat, dass es einen gewissermaßen gefühlten
»linken« Konsens gibt: alle sind irgendwie
»politisch«, also »kritisch« und
»links«, egal was für ein reaktionärer Unfug vertreten
wird. Im Zustand allgemeiner Standpunktlosigkeit zählt der eigene
Standpunkt - »anything goes« ist das Diktum demokratischer
Meinungsbildung, alles wird toleriert, alle wollen Mitreden. Man interessiert
sich für alles, hat aber jedes wirkliche, praktische Interesse an der Welt
verloren. Was gegenwärtig in Musikzeitschriften und Popmagazinen an
Positionen vertreten wird, die sich zudem noch als politisch gerieren, ist
abstrus. Das ist übrigens der einzige Grund, Jochen Distelmeyer die
flapsige Antwort im Spex-Interview doch anzurechnen, Blumfeld sei
nie eine politische Band gewesen. Eine andere Strategie der Rettung des
Politischen verfolgen die Goldenen Zitronen allein darin, dass sie ihr
neues Album LENIN genannt haben.
Während sich gegenwärtig die Schere zwischen Popkultur und
kritischem Denken immer weiter öffnet, erfährt ein längst
aufgegebenes Prinzip - das der Independent-Popkultur - eine merkwürdige
Renaissance. Woher kommt dieser Bezug und warum ist dieses Prinzip auch heute
noch so anziehend?
Ich denke nicht, dass Independent als Prinzip aufgegeben wurde; vielmehr
scheint es mir ständig neu definiert, neu bewertet worden zu sein und hat
sich durch die verschiedenen Musikgenres und Popmoden durchgeschlängelt.
Aufgegeben wurde die mit Independent verbundene Ideologie des Authentischen,
welche aber zugleich immer wieder neu begründet wurde: Ist das Echte,
Ehrliche, Wahre etc. nun das Erdige, Bodenständige, Natürliche, oder
ist es die Kopie, das Bekenntnis zum Falschen, das Synthetische? Die Kategorie
des Authentischen kommt aus der in der Romantik ge-prägten
Werkästhetik und hat dort bis zur kritischen
Theorie Adornos ihren emanzipatorischen Gehalt gehabt; gerade der deutsche Popdiskurs hat dieses Au-thentische im Sinne eines
Lifestyles und, wenn man so will, als Ästhetik des Lebenskunstwerks,
kultiviert - leider in einer keineswegs fortschrittlichen Manier, sondern bestenfalls
wirklichkeitsvergessen. Genau das scheint aber die Attraktivität von
Independent auszumachen: wie gesagt, auch Independent verfügt über
keine symbolische Prägnanz mehr - und kann deshalb mit nahezu jedem
symbolischen Ausdruck angereichert werden: Weil Authentizität nichts mehr
bedeutet, kann alles authentisch sein. Independent als Prinzip ist dafür
in einer Gesellschaft, die nur noch unter dem Vorzeichen der Diskurse um die
kulturelle Vormachtstellung wahrgenommen wird, eine leicht bedienbare Matrix.
Nicht selten beruht dabei das eigene kritische
»Independent-Sein« nur darauf, Schlüsselwörter in
vermeintlich selbstironischer Art und Weise in den »diskursiven«
Raum zu stellen. Dabei wird Ironie oft mit Reflektion des eigenen Schaffens
verwechselt. Zugleich wird kritischen Interventionen auf dem Feld der Popkultur
- etwa gegen den massiven kulturellen Antiamerikanismus zu Beginn des
Irakkrieges - vehement entgegnet. Wird tatsächlich argumentiert, dann mit
Argumentationen, die in den politischen Debatten längst überholt
sind. Kann daraus der Schluss gezogen werden, dass die vorgeblich kritische
Independent-Popkultur vielmehr zur Konservierung politischer Ansichten
geführt hat?
Ja, auch insofern, dass die Konservierung selbst zur politischen Ansicht
erklärt wird: eben als offenes Bekenntnis zum Konservatismus. Das kommt
dann gelegentlich ironisch gebrochen daher, ist aber gar nicht ironisch,
sondern zynisch oder hämisch. Ironie meint ja, nach einer schönen
Definition Arthur Schopenhauers, dass hinter dem Ernst der Scherz versteckt ist
- Ironie ist ein tragisches Verhältnis. Auch wenn es etwa jemand wie der
Linkspopulist Richard Rorty anders sieht, fällt es mir schwer, in der
postmodernen Haltung des Pop Ironie zu entdecken: es gibt den Scherz,
aber keine Tragik, keinen Ernst, auf den man sich bezieht. Diese Ironie ist
Schadenfreude und Lächerlichmachen, eine Form der Diskriminierung und
Denunziation. Vor allem ist diese Ironie durch Klugscheißerei
gekennzeichnet; sie ist nicht reflektiert, weil
sie der Unmittelbarkeit, das heißt dem Gefühl entspringt. Sie
kokettiert mit Dummheit, die heute als akzeptierte Position gilt: Jeder darf
drauflos plappern und sich echauffieren; je naiver man an eine Sache herangeht,
umso ehrlicher und reflektierter erscheint die Meinung, gleich ob es um
Amerika, Israel, Deutschland, die Musikindustrie an und für sich, die
Politik im allgemeinen oder irgendwelche Popmusik im besonderen geht. Dass
heute alles möglich ist, solange der Konsens über das vermeintlich
Unmögliche (Kommunismus, die Abschaffung von Staat und Ökonomie)
nicht überschritten wird, öffnet einen Spielraum für
pseudoironische Selbstinszenierungen: Es kommt nicht mehr darauf an, was man
zum Beispiel für Musik hört, welche Bücher man liest, in welche
Kneipen man geht, sondern wie man all dies macht - und wer es macht. Jeder darf
als »Exzentrik-Clown« (Adorno) auftreten, jeder hat seine
dafür vorgesehene Bühne. Independent kann dabei ein Accessoire sein,
um sich als politisch reflektiert zu verkleiden; gleichzeitig wird aber auch
jede Art von Tabubruch als Requisite der Selbstinszenierung ausgeschöpft:
solange nicht grundsätzlich an den gesellschaftlichen Verhältnissen
gerüttelt wird, ist alles erlaubt und darüber hinaus eine willkommene
Ablenkung von eben diesen Verhältnissen.
Die Poplinke hat es indes versäumt, ihre Strategien des Pop
materialistisch zu reflektieren, zum Beispiel eine Ästhetik des
Independent am Material zu konkretisieren und im Material zu fundieren.
Auch politisch blieb die Poplinke pseudokonkret; der ganze Bereich des
Politischen, die Auseinandersetzung mit den materiellen Bedingungen, bleibt
ausgespart. Dort, wo die Kulturlinke zum Politischen zurückkehrt - etwa:
Kultur-attac, Cultural Jamming, Volkskarawane,
Euromayday etc. -, gerät sie nur zu leicht in den Sog eines
regressiven Aktionismus, mit dem tatsächlich
»Argumentationen« wieder aufgegriffen werden, die nicht nur in
den politischen Debatten überholt sind, sondern die auch schon damals
falsch und reaktionär waren.
Welches Verhältnis sollten deiner Ansicht nach Popkultur und linke
Politik zueinander einnehmen, wenn damit doch immer die Gefahr besteht, sie als
Gestus oder Identität in ein handliches Format zu gießen?
Kulturkritik wird nicht besser, wenn sie als Popkulturkritik formuliert wird.
Linke Politik bedeutet, eine Praxis der kritischen Theorie der Gesellschaft zu
entwickeln. Wenn man eine andere Welt will, das Leben ändern will, dann
darf sich das nicht nur auf die Kultur beziehen; Kultur bleibt, auch wo sie als
Popkultur allgegenwärtig geworden ist, ein übergeordneter Komplex.
Die Subkulturen haben sich in den letzten Jahren darauf beschränkt, ihre
jeweilige Nische zu renovieren, sich immer wieder neu einzurichten, sich neue
Symbole zuzulegen. Man muss das Problem der Revolution in die Popkultur
zurückbringen; dafür ist es meines Erachtens notwendig, sich noch
einmal die Entstehung der Popkultur in den fünfziger Jahren anzusehen.
Für die politische Praxis heißt das auch, künstlerisch die
Frage nach der Avantgarde wieder aufzuwerfen - und sich die Antwort nicht
gleich vom bürgerlichen, sozialdemokratischen Kunstbetrieb vorschreiben zu
lassen. Das heißt letztendlich erneut den Versuch zu unternehmen, all die
heute unmodischen Theorien, Forderungen, Thesen wieder ins Spiel zu bringen und
die Popkultur mit einer Utopie anzureichern, sie eben nicht um die Utopie zu
verkürzen; das heißt über die Möglichkeit nachzudenken,
die Trennung von Kultur und Gesellschaft, von Kunst und Leben zu
überwinden und aufzuheben, ohne damit das emanzipatorische Potenzial der
Kunst und ohne damit den Entwurf kritischer Subjektivität aufzugeben. Das
heißt aber auch, die Kultur in ihrer Funktion als Unterhaltung stark zu
machen und das Vergnügen nicht der Dummheit und der Stumpfsinnigkeit zu
überlassen. Gonzales hat das ganz hübsch ausgedrückt:
»To my friends: This is the revenge of entertainment. To my enemies:
This is the entertainment of revenge.«
Ob Politik zur Geste wird, entscheidet sich nicht durch den kulturellen
Ausdruckszusammenhang, sondern durch die politische Praxis selbst. Kein Problem
wäre es etwa, wenn Antifaschismus zur Geste wird, ohne dabei seine
tatsächliche Schlagkraft zu verlieren, oder sie vielleicht durch das
Gestische bereichert. Umgekehrt gibt es politische Positionen, die als auch als
Geste unerträglich sind - das gilt für jede Form des kollektiven
Narzissmus (Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus etc.).
Und ein Wort noch zum Begriff der Identität, weil sich mittlerweile die so
genannte Kritik der Identitätspolitik als Topos etabliert hat: der Affront
gegen Identität oder das Identitäre ist ein Reflex einer
antimaterialistischen Diskurstheorie, die sich ohnehin von den kritischen
Begriffen, von der Dialektik, vom Subjekt-Objekt, vom systematischen Gedanken,
von dem Konzept der Totalität gesellschaftlichen Seins verabschiedet hat.
Eine kritische Theorie, die diese Begriffe allerdings nicht aufgibt, kann auch
auf die dialektische Konstruktion der Identität nicht verzichten. Ohne das
Identische fällt die Welt, fallen wir als Subjekte auseinander. Dass
manche das als Gestus praktizieren - nach Deleuze: »Ich sind
viele« -, bedeutet eine fatale Selbstaufgabe und ist
antiemanzipatorisch.
Kann es so etwas wie kritische Popkultur (im Sinne der kritischen Theorie)
überhaupt geben?
Vielleicht muss man die Frage differenzieren: Kann es innerhalb der Popkultur
oder mit Mitteln der Popkultur Kritik geben? Und was wäre eine Kritik mit
kulturellen Mitteln, wie sieht dies aus, wie hört sich dies
an? Wie kritisiere ich etwas kulturell? Was macht einen Lebensstil, eine
Haltung kritisch, und was macht ein kulturelles Produkt kritisch,
schließlich worin wird Kunst kritisch? Darüber hinaus gilt es gerade
in Hinblick auf die Kritik die Frage zu stellen, ob es überhaupt die
Aufgabe der Kultur, der Popkultur, irgendwelcher Bands oder etwa auch des Conne
Islands ist, kritisch zu sein? - Heißt Kritik Aufklärung, hat
Popkultur also eine Art pädagogischen Auftrag? Oder heißt Kritik,
sich dieser Pädagogisierung, dieser Diktion »öffentlicher
Meinungsbildung« zu verweigern? - Die kritische Theorie geht von einem
negativen Begriff der Kritik aus; es gibt kein affirmatives Programm, keine
»konstruktive Kritik«. Auch der Begriff der Kultur ist negativ zu
bestimmen: Man muss sich eingestehen, dass es an dieser Kultur des Kapitalismus
nichts zu retten gibt (obwohl sie voll von Unabgegoltenem ist). »Alles,
was uns durch die gebildete Kultur überliefert ist, muss bei der Analyse
auf den Kopf gestellt werden«, bemerkte Edward P. Thompson. Das Konzept
der negativen Kultur korrespondiert mit dem, was mit Benjamin die
»positive Barbarei« genannt werden kann: Unser Zeitalter ist von
einer Erfahrungsarmut gekennzeichnet; sie ist »eine Art von neuem
Barbarentum [
] Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des
Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den
Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; [
] Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes
nach dem anderen haben wir dahingegeben, oft ein Hundertstel des Wertes im
Leihhaus hinterlegen müssen, um die kleine Münze des
Aktuellen dafür vorgestreckt zu bekommen
In deren
Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit sich darauf vor, die
Kultur, wenn es sein muss, zu überleben. Und was die Hauptsache ist, sie
tut es lachend. Vielleicht klingt dieses Lachen hier und da barbarisch.«
(Erfahrung und Armut, 1933) Insofern gehört zu einer kritischen
Popkultur aber auch, wie eben schon bemerkt, die gute Unterhaltung - das
heißt sich unterhalten zu lassen, um den Kopf dann für Kritik frei
zu bekommen -, also auch der Kampf um Entertainment, das Recht auf Zerstreuung.
Entscheidend ist, die Kultur, die Pop- oder Subkultur nicht als Wert an sich zu
begreifen; der kritischen Theorie geht es nicht um die Verteidigung der Kultur,
sondern um die Möglichkeit des Menschen, um die Verteidigung der Utopie
der befreiten Gesellschaft. Das heißt, einmal mehr, kritische Theorie der
Popkultur ist nur als kritische Theorie der Gesellschaft denkbar, nicht als
Kulturkritik, nicht als Popdiskurs.
Vielen Dank für das Gespräch
15jahre.conne-island.de - Broschüre zu 15 Jahre Conne Island - 9. September 2006