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Hannes Gießler
Kulturindustrie und völkische Kultur

Während der Nationalsozialismus die Volksgemeinschaft zur Geltung bringen wollte, möchte der Islamismus die Umma schaffen. Während der NS die Juden als totale Feinde der Volksgemeinschaft identifiziert hat, wollen die Islamisten Israel auslöschen. Neben dem totalen Feinbild, das die Chimären gott- oder naturgewollter Kollektive notwendig zur Folge haben, wird auch nach innen die gott- oder naturgewollte Ordnung durchgesetzt. Das schlägt sich nicht zu letzt in dem Kulturangebot nieder.

Bücherverbrennung

1933, als sie an die Macht kamen, begannen die Nationalsozialisten sofort mit der Kampagne »Wider den undeutschen Geist«, deren Höhepunkt die Bücherverbrennung darstellte. Unter ökonomischen Gesichtspunkten war die Kampagne widersinnig. Viele der im Zuge der Kampagne verbotenen Kulturgüter hätten sich noch gut verkaufen lassen. Das markiert den Unterschied zwischen völkischem Kulturleben und der sogenannten Kulturindustrie. Während diese Waren losschlagen will, möchte der Nationalsozialismus die Kultur nach seinem Willen gestalten. Das eine mal sollen Kapitale akkumulieren, das andere mal die nazistischen Ideale unters Volk gebracht werden. Gemeinsam ist beiden »Ökonomien«, dass sie künstlerische Gebilde einem Zweck unterordnen, d.h. sie instrumentalisieren. Auch verbindet beide die Nutzung modernster Reproduktionstechniken und Verbreitungsmedien. So wie die Kulturindustrie so viele Waren wie möglich so breit wie möglich verkaufen will, so sollten ab 1933 und bis 1945 deutsche Kulturgüter zum Zwecke der »geistigen Mobilmachung« (Joseph Goebbels) unters Volk gebracht werden. Beide haben die Massen zum Adressat - während es in dem einen Fall aber um schwarze Zahlen geht, so geht es im anderen um eine ganz bestimmte völkische Indoktrination der deutschen Massen. Während es für die Kulturindustrie kein Widerspruch sondern, angesichts des Geldes, völlig logisch ist, im gleichen Laden T-Shirts mit dem Che-Konterfei und Basecapes mit der Aufschrift USA auszulegen, so sollte im NS die Kultur konsistent wie nie werden, nämlich widerspruchslos, homogen. Die Ideologie gab den Rahmen vor, in der sich Kultur zu bewegen hatte. Dieser Rahmen wurde in der Kampagne »Wider den undeutschen Geist« mit Gewalt fixiert.

Dialektik der Aufklärung

Angesichts solcher Unterschiede verwundern die Ausführungen Adornos und Horkheimers zur Kulturindustrie, die in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung zu finden sind. Obwohl während der NS-Zeit im amerikanischen Exil entstanden, wird dort die Frage nach den Unterschieden zwischen Kulturindustrie und völkischem Kulturleben nicht aufgeworfen - ganz im Gegensatz zu der nach den Gemeinsamkeiten. Um den NS ging es den Autoren ausdrücklich:
    »Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.« (S. 11)1 Adorno und Horkheimer wollen den - durch das »gegenwärtige theoretische Verständnis« - »unbegriffenen Wahnsinn« begreifen (13). Das zeitgenössische theoretische Verständnis, das in der Tradition der Aufklärung steht, hätte sich dadurch ausgezeichnet, dass es nicht selbstkritisch gewesen ist und die Barbarei der Zivilisation gegenüberstellt hat, statt die Voraussetzungen der Barbarei in der Zivilisation kritisch zu bestimmen. Die Autoren wollen durch negatives Denken, das keine Scheu vor den Heiligtümern der Aufklärung hat, einen neuen »positiven Begriff von ihr« (16) vorbereiten.

Manipulation

So einleuchtend die Herangehensweise Adornos und Horkheimers ist, so wenig schützt sie vor Fehlurteilen. Nicht nur die mangelnde Unterscheidung von westlichen Demokratien, Stalinismus und Nationalsozialismus in der Kritik »des großen historischen Zuges« (16) ist eine Schwäche des Buches. Auch der darin wirkende Leninismus führt zu Fehlschlüssen, die sich besonders in dem Kapitel zur Kulturindustrie niederschlagen. Diesen aufsitzend wird die Kulturindustrie - ohne den Widerspruch zwischen dieser und jenem zu erkennen und zu benennen - als formatives Moment des Faschismus dargestellt: »Aus den Kulturmasken blickt drohend stets der Terror, zu dem die Volksgenossen aller Länder vorbereitet werden.« (335)
    In Folge Lenins werden »Monopol und Staatskapitalismus« (315) und die »wahren Machthaber« (144) zu wichtig und sowohl das Kapital als »automatisches Subjekt« (Karl Marx) als auch Ideologien zu wenig ernst genommen. Durch diesen Leninismus ist vorgezeichnet, dass Adorno und Horkheimer den entscheidenden Unterschied zwischen Kulturware und völkischem Kulturgut nicht herausstellen können. Sie betonen in dem Kapitel zur Kulturindustrie viel zu stark, dass die Kulturwaren - »da der Markt zu Ende geht« (185) - geplant und kalkuliert werden und den Massen ein »Geist [...] eingeblasen wird«.2 Im gleichen Zuge erfassen sie zu wenig die am Profit ausgerichtete Anarchie von Angebot und Nachfrage, die neben den typischen Stars und Kulturwaren auch Untypisches in die Charts spült -
    heute beispielsweise Helge Schneider, Marilyn Manson und de Randfichten. Das Schema der Kulturindustrie ist in erster Linie nicht von oben strukturiert, sondern von der unmittelbaren Zukunft her: durch schwarze Zahlen. Dadurch hat die Freizeitindustrie, so Alain Finkielkraut3, keine totalitäre Ausschließlichkeit zum Ergebnis, sondern einen geistlosen Eklektizismus. Dass ein Pop-Song der Band Wir sind Helden gegen das Fernsehen durch dieses verbreitet wird, ist nur eine besonders auffällige Stilblüte des Kulturwarenmarktes.
    Das Geld schafft die Distanz des Verkäufers zum Inhalt und jede beliebige Ware zum Kunden. Aus der Perspektive der Kapitalisten ist der Gebrauchswert völlig egal, Hauptsache er verkauft sich. Es lassen sich bei Adorno und Horkheimer zwar Passagen finden, in denen sie diese über das Geld vermittelte Produktionsweise der Kulturwaren reflektieren. So beschwören sie als ein Wesensmerkmal der Kulturindustrie stark die Manipulation der Bedürfnisse und eine Standardisierung der Kulturwaren »von oben her« (307): »Die Kulturmonopole [...] müssen sich sputen, es den wahren Machthabern recht zu machen, damit ihre Sphäre in der Massengesellschaft [...] nicht einer Folge von Säuberungsaktionen unterworfen wird. Die Abhängigkeit der mächtigsten Sendegesellschaften von der Elektroindustrie, oder die des Films von den Banken, charakterisiert die ganze Sphäre [...].« (144) »Je fester die Positionen der Kulturindustrie werden, um so summarischer kann sie mit dem Bedürfnis des Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren.« (166) Adorno und Horkheimer betonen hier unmittelbare Verfügung und unmittelbaren Zwang. Diese sind in der Kulturindustrie mittels der Monopole zwar möglich, aber fast nie akut. Die Gesetze des Marktes und wohl auch die der Subkulturen sind wichtigere Strukturmomente der Kulturindustrie als »das vom Monopol ersonnene Schema« (330).

Goebbels und Pro-Sieben

Es ist die durch das Geld hergestellte Distanz zum Gebrauchswert, die die totalitären Systeme so fürchten. Ihre politisch sondierten Gebrauchswerte werden durch die kulturindustrielle Beliebigkeit der Gebrauchswerte bedroht. »Schließlich«, so ein Bericht des Reichsjustizministeriums von 1943, »liegen viele Berichte von illegalen Jugendvereinigungen vor, die im wesentlichen liberal mit deutlicher Blickrichtung zur ›lässig-englischen‹ Lebensführung eingestellt sind. [...] Während die HJ die Jungens und Mädels zu tüchtigen Volksgenossen erziehen und zur Gemeinschaft zuführen will, bezwecken jene Bünde gerade ein Sonderleben außerhalb der Volksgemeinschaften. [...] Sie redeten der Männerfreundschaft das Wort und förderten dadurch in erschreckendem Maße die Homosexualität in den Reihen der kritiklosen Jugend. [...] Häufig sind unter ihnen Arbeitsbummelanten anzutreffen. [...] Die auffälligste Erscheinung unter diesen gefährdeten Gruppen ist die sog. Swing-Jugend [...] Diese Cliquen gehen vom Drang zum Amüsieren aus und nehmen fortlaufend einen ans Kriminell-Asoziale grenzenden Charakter an. [...] Die Gier nach dem ihnen vornehm erscheinenden Leben in Klubs, Barbetrieben, Kaffeehäusern und Hausbällen verdrängt jeden Willen zu einer positiven Einstellung gegenüber den Zeiterfordernissen. Die Leistungen unserer Wehrmacht ließen sie unberührt, die Gefallenen wurden zum Teil verächtlich gemacht. Eine wehrfeindliche Einstellung ist hiernach deutlich erkennbar. Nach außen hin treten die Mitglieder in an die englische Mode angelehnten Kleidern in Erscheinung. [...] Der Engländer wird von ihnen als die höchste Entwicklungsstufe betrachtet. Der falsch verstandene Begriff von Freiheit führt sie in Opposition zur HJ. [...] [Es] gab z.B. in Frankfurt a.M. den Harlem-Klub, bei dem Hausbälle übelster Art an der Tagesordnung waren. Wechselnder Geschlechtsverkehr wurde auch von den jüngsten weiblichen Mitgliedern hingenommen. Alkoholische Exzesse gaben diesen Festen, bei denen ›geswingt‹ und ›gehottet‹ wurde, das Gepräge [...].«4 Der Swing mag ein vergnügliches Einverständnis mit der unversöhnten Welt sein. Aber: Gegen die Volksgemeinschaft hält er - wenn auch geistlose - Bedürfnisse des Individuums (und dadurch dieses) hoch, deren Existenz das Kapital glücklich macht und deren Befriedigung es, for cash, zu leisten trachtet.
    Während Pro-Sieben süffisant verlauten lässt: »We love to entertain you«, sendete Goebbels Postkarten an die Front, auf denen stand: »Nicht du bist der Maßstab! Sondern die Front!«. Natürlich ist das Pro-Sieben-Programm »baby food« (305), es fördert und fordert das kritische Bewusstsein in keiner Weise. Es degeneriert das Individuum aber nicht, indem es jenes zum Bauernopfer der Volksgemeinschaft in einem Vernichtungskrieg apostrophiert, sondern indem es das Individuum zu dessen Ehren und ohne Zwang vor der Mattscheibe gefesselt hält. Soweit der Bedürfnisumfang auch geistlos bleibt, weil die Kultur von dem Prinzip, gegen das sie sich richten könnte, selbst durchzogen ist, so sehr muss der Bedürfnisumfang mit G-W-G' (so die Formel für die Akkumulation von Kapital5 ) immerzu wachsen, seitdem die Industrie in der sogenannten Ersten Welt den Freizeitmarkt entdeckt hat. Als sie das tat, trat an die Stelle des puritanischen Arbeitsasketen der Konsument. Nachdem mit G-W-G' der Freizeitmarkt wachsen musste, d.h. der Kulturimperialismus »wütete«, war es nur eine Frage der Zeit, das Sexualität aller Schattierungen und Subkulturen als Markt entdeckt und »gefördert« wurden - daher das ständig entgrenzende, hedonistische und subversive Antlitz des westlichen Freizeitmarktes. Wie Brecht selbst wusste, war dies auch ein Grund für den exorbitanten Erfolg seiner revolutionären Dreigroschenoper.

Volksempfänger

Dass die Kulturindustrie aufgrund ihres ökonomischen Wesens und des damit einhergehenden Eklektizismus den totalitären Systemen und Bewegungen zuwider ist, schließt noch lange nicht aus, dass ihre Produktions- und Distributionstechniken samt bestimmter Inhalte nicht vom NS adaptiert wurden. Eines der ersten Projekte der Nazis war die Verstaatlichung des Rundfunks und dessen Streuung in der Bevölkerung. Sämtliche dazu fähige Unternehmen wurden noch im Jahre 1933 verpflichtet, den Radioapparat VE 301 nach genormter Bauart zu bauen. Während Radiogeräte unter Marktwirtschaftsbedingungen 200 bis 400 Reichsmark gekostet hatten, kostete dieser von Staats wegen nunmehr nur 75 RM. Sein Name ist Programm: VE steht für Volksempfänger, 301 für den 30.1., den Tag der sogenannten Machtergreifung der NSDAP.
    An diesem Gerät bekommen wir den ganzen Unterschied zwischen Kulturindustrie und völkischem Kulturleben vorgestellt. Die Nazis hatten die Medien der Kulturindustrie übernommen. In das Kulturgut wandert dann, wie der Name des Mediums anzeigen sollte, der ideologische Geist ein und verdrängte das Profitmotiv.

Islamismus

Der Islamismus hat ein ähnliches Verhältnis zur Kulturindustrie. Einerseits wird deren Know-how genutzt, wie etwa peppige Videos der Al-Kaida zeigen, die unter jugendlichen Moslems zirkulieren und Anleitungen zu Selbstmordattentaten sind. Andererseits ist der Eklektizismus der Kulturindustrie den Islamisten ein Dorn im Auge. Als in Gaza zur Feier des israelischen Abzugs im Jahre 2005 ein Fest stattfand, wurde ein palästinensischer Hip Hopper von Hamas-Aktivisten von der Bühne geprügelt. Im Iran achtet das islamistische Regime nach Kräften darauf, dass keine westliche Musik die Jugend indoktriniert. Als eine russisch-orthodoxe Kirche Teheraner Jugendlichen 2001 ihre Räumlichkeiten für ein Rock-Konzert zur Verfügung stellte, wurde dieses zu einem Mythos, der bis heute in unzähligen Blogs kolportiert wird: »It was the first concert of its kind in Iran. […] In front of stage all you could see was slam dancing, raging, diving etc. [...] A few boys and girls were so excited after the show that they described that night as one of the best in their whole life!«
    Völlig tabuisiert ist sexuelle Freizügigkeit. Wiederum in Gaza wurde eine Frau von der Hamas hingerichtet, die noch nicht verheiratet mit ihrem zukünftigen Mann am Strand Händchen gehalten hatte. Eine Popsängerin wie Madonna ist, wo sie doch schon in der westlichen Welt mehrmals für ihre blasphemischen Video- und Bühnenauftritte angeprangert wurde, ein Schrecken für das islamische Patriarchat. Dass Madonna die Welt nicht versöhnt, sondern ein geistloses und auf bloßen Versprechungen basierendes Vergnügen bietet, kann mit Adorno und Horkheimer verdeutlicht werden. Aber: Das Prinzip, das Adorno und Horkheimer der Kulturindustrie abfällig und zu recht unterstellen: »Alle sind frei, zu tanzen und sich zu vergnügen« (191), wäre in der islamischen Welt ein Segen. Ob er ähnlichen Einfluss haben kann wie 1945 in Westdeutschland, steht auf einem anderen Blatt.
    Im Kleinen wirkt dieser Segen schon immer. Im Iran hat trotz der islamischen Revolution eine Parallelgesellschaft ganz besonderer Art überlebt: »Die gelebte Wirklichkeit hat sich längst ihre Schleichwege um die Doktrinen der Mullahs gebahnt. Der Markt mit Raubkopien boomt. Amerikanische Blockbuster sind Tage nach ihrer US-Premiere bereits als DVD auf dem Schwarzmarkt zu haben. Perfekt untertitelt. Und nicht selten findet man den Tschador nicht auf dem weiblichen Haar, sondern über verbotenen Satellitenschüsseln, die die Haushalte mit RTL, MTV und US-amerikanischen Unterhaltungsprogrammen versorgen.«6

Der Autor ist CEE IEH-Redakteur.

Der Text entstand während der Vorbereitungen zu einer Veranstaltung anlässlich des 15 jährigen Jubiläums des Conne Island. Eine ausführlichere Fassung wird demnächst im Newsflyer des Conne Island erscheinen.

Anmerkungen

1 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main, 1977.

2 Adorno, Résumé über Kulturindustrie, GS 10.1, 338.

3 Alain Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, Reinbek bei Hamburg 1989, 143.

4 Aus einem Bericht des Reichsjustizministeriums (1943), Quelle: Bundesarchiv Koblenz R 22/1177, Bl. 441.451, im Internet: www.dhm.de/lemo/html/dokumente/jugendopposition43/index.html 02.08.06].

5 Siehe: Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1975, Bd. 23, 171. G-W-G' ist das Marxsche Kürzel für »Geld-Ware-Geld«.

6 Birgit Glombitza, Verzerrte Wirklichkeit, Die Tageszeitung, 11. Februar 2004.
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